Notprogramme zur Einstellung von Physiklehrkräften gefährden die Qualität des Physikunterrichts

Stellungnahme der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), der Gesellschaft für Didaktik der Chemie und Physik (GDCP) und des Deutschen Vereins zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts (MNU)

Der Bedarf an ausgebildeten Physiklehrkräften kann seit mehreren Jahren in den meisten Bundesländern nicht mehr gedeckt werden. Aus diesem Grund bieten verschiedene Bundesländer durch entsprechende Erlasse Diplomphysikerinnen und Diplomphysikern und anderen Natur- und Ingenieurwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern die Möglichkeit des Quereinstiegs in die zweite Phase der Lehrerausbildung (Referendariat) oder des Seiteneinstiegs direkt in den Schuldienst an.

Eine Studie des Instituts für Didaktik der Physik der Goethe-Universität Frankfurt analysiert die
derzeitigen Ausbildungswege des Physiklehrernachwuchses sowie das Angebot und die Nutzung von
Quer- und Seiteneinsteigerangeboten in den Bundesländern. Momentan bieten zwölf von 16 Bundesländern
Quer- und Seiteneinsteigerprogramme an. Am intensivsten werden solche Programme in
den bevölkerungsstarken Ländern wie Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen
genutzt.

Die bereits vorliegenden Daten der Studie, die aus einer Befragung der 16 Kultusministerien gewonnen
wurden, zeigen ein ausgesprochen heterogenes Bild der Situation des Physiklehrernachwuchses,
das eine Unterscheidung in folgende vier Gruppen erforderlich macht:

  • Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz bieten sowohl Querals auch Seiteneinsteigerprogramme an.
  • Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Bremen und Hamburg ermöglichen Quereinstiege.
  • Berlin, Saarland und Schleswig-Holstein ermöglichen Seiteneinstiege.
  • Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen bieten zurzeit keine Quer- und Seiteneinsteigerprogramme an bzw. nutzen diese nicht.

Neben dieser qualitativen Beschreibung machen die quantitativen Daten die starke Nutzung der
Programme deutlich: Bis zum Jahr 2007, einschließlich, begannen bundesweit mindestens 1950
Quereinsteiger den Vorbereitungsdienst und mindestens 600 Seiteneinsteiger wurden direkt in den
Schuldienst eingestellt. Damit unterrichten bundesweit 2550 Referendarinnen und Referendare und
Lehrkräfte Physik ohne abgeschlossenes Lehramtsstudium. Interessant ist dabei ein Vergleich mit
Daten der Konferenz der Fachbereiche Physik (KFP), die jährlich die Zahlen der Lehramtsabsolventen
im gymnasialen Bereich erhebt: Betrachtet man den Zeitraum 2002 bis 2007, schlossen laut KFP
1740 Lehramtsstudierende für Gymnasien ihr Studium erfolgreich ab. Im gleichen Zeitraum wurden
1451 Quereinsteiger in den Vorbereitungsdienst an Gymnasien eingestellt. Unter der Annahme, dass
alle Lehramtsabsolventen den Vorbereitungsdienst beginnen, entspricht das einer bundesweiten
Quereinsteigerquote von 45%.

Auch wenn nicht pauschal davon ausgegangen werden kann, dass Quer- und Seiteneinsteiger per se
schlechter qualifizierte Physiklehrkräfte sind, konterkarieren diese Entwicklungen massiv die Bemühungen
von Bildungsforschern, Hochschullehrern und Fachverbänden, die Lehrerbildung weiter zu
professionalisieren und stärker als bisher auf den Lehrerberuf auszurichten. Die Quer- und Seiteneinsteigerprogramme
unterlaufen die am 16. Oktober 2008 von der Kultusministerkonferenz verabschiedeten
und für Lehramtsstudiengänge verbindlichen „Ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen
für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung“. Dies
gilt vor allem hinsichtlich der dort geforderten soliden Kenntnisse zur Gestaltung von Physikunterricht,
typischer Schülervorstellungen und Lernschwierigkeiten in den schulrelevanten physikalischen
Themengebieten. Trotz ihrer in der Regel guten fachlichen Kompetenzen sind Quer- und vor allem
Seiteneinsteiger unzureichend auf die physikdidaktischen und pädagogischen Anforderungen in der
Schule vorbereitet.

Bei der Konzeption der Quer- und Seiteneinsteigerprogramme steht die Unterrichtsabdeckung im
Mittelpunkt. Fragen nach Unterrichtsqualität und der Professionalisierung von Lehrkräften spielen
eine untergeordnete Rolle. Die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG), die Gesellschaft für
Didaktik der Chemie und Physik (GDCP) und der Deutsche Verein zur Förderung des mathematischen
und naturwissenschaftlichen Unterrichts (MNU) warnen vor den negativen Auswirkungen von Adhoc-
Einstellungsprogrammen wie sie zuletzt im Sommer 2008 in Hessen und im November 2008 in
Nordrhein-Westfalen eingeführt wurden. Nordrhein-Westfalen eröffnet sogar Lehrkräften völlig ohne
Physikstudium nach Durchlaufen einer sehr begrenzten berufsbegleitenden Zusatzausbildung den
Zugang zum Unterrichten von Physik.

Es steht zu befürchten, dass Lehrkräfte, die als Quer- und Seiteneinsteiger oder sogar allein aufgrund
des Erwerbs eines solchen Zertifikats eingestellt werden, mittel- und langfristig Planstellen
besetzen, die dann für regulär ausgebildete Physiklehrkräfte nicht mehr zur Verfügung stehen. Das
gerade wieder anwachsende Interesse am Lehramtsstudium im naturwissenschaftlich-technischen
Bereich kann schnell wieder erlöschen, wenn die Einstellungschancen durch diese Vergabepraxis
von Planstellen rapide sinken.

Eine qualitativ angemessene Erteilung von Physikunterricht ist nur zu erreichen, wenn für Quer- und
Seiteneinsteiger ein systematisches, länger andauerndes und adressatenspezifischen Qualifizierungsprogramm
entwickelt und finanziert wird. Unabhängig von kurzfristigen Notmaßnahmen muss
der Beruf des Physiklehrers/der Physiklehrerin zudem stärker gefördert und beworben werden. Um
diese Aufgaben zu bewältigen, müssen die Kultusministerien zusammen mit den Universitäten,
Studienseminaren und Lehrerfortbildungsinstituten gemeinsam und koordiniert handeln. Die unterzeichnenden
Fachgesellschaften bieten ihre Gesprächsbereitschaft und Unterstützung an, um nachhaltige
Lösungen zu finden.

Arnold a Campo
Bundesvorsitzender des MNU

Prof. Dr. Horst Schecker
Sprecher des Vorstandes der GDCP

Prof. Dr. Gerd Litfin
Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft