Nachruf auf Prof. Dr. Armin Hermann (1933-2024)

Am 12. Februar 2024 verstarb der Wissenschaftshistoriker Prof. Dr Armin Hermann (1933-2024). Er war der erste Lehrstuhlinhaber für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik am Historischen Institut der Universität Stuttgart und eine zentrale Figur für die Geschichte unseres Fachverbands, den er 1972 gegründet hat.

Armin Hermann wurde am 17. Juni 1933 in Vernon, British Columbia, als Sohn eines Ingenieurs geboren, wuchs aber nicht in Kanada, sondern in Deutschland auf. Er studierte Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und schrieb dort bei Fritz Bopp (1909-1987) eine Diplomarbeit über Tensor-Wellen­gleichungen. Danach arbeitete er einige Jahre lang am Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY in Hamburg, für dessen Gründungsdirektor Willibald Jentschke (1911-2002) und Leiter der Theoriegruppe Hans-Otto Wüster (1927-1985) Hermann Berechnungen über Synchrotron-Oszillationen an einem IBM 650 Computer durchführte. 1963 wurde er mit einer Dissertation über den Motteffekt an Elementarteilchen und Kernen mit elektromagnetischer Struktur in theoretischer Physik bei Fritz Bopp promoviert. Er entschied sich dann aber für einen Wechsel von der Physik zur Physik­geschichte, die ihn bereits seit seiner Studienzeit auch intensiv beschäftigt hatte. Hermann wurde noch 1963 Assistent beim Technik­historiker Friedrich Klemm (1904-1983) am gerade erst gegründeten Forschungsinstitut des Deutschen Museums in München und habilitierte sich 1968 in Geschichte der Naturwissenschaften an der LMU München mit einer Studie zur Frühgeschichte der Quan­ten­theorie, die später ins Englische und Japanische übersetzt wurde.  Seit dem Wintersemester 1968/69 bis 2001, also für über 30 Jahre, war er der erste Professor für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik am Historischen Institut der Universität Stuttgart auf einem der ersten Lehrstühle für dieses kleine Fach, der nicht an einer natur­wissen­schaft­lichen oder mathe­matischen, sondern an einer historisch-philosophischen Fakultät situiert war, deren Dekan er 1972-73 auch war. Er verfasste wichtige Mono­graphien zur Quanten­theorie und -mechanik sowie zur Elementar­teil­chen­theorie, zum Weltreich der Physik von Galilei bis Heisenberg, zur Geschichte der Atomphysik, zum Weg ins Atom­zeitalter und darüber, wie die Wissenschaft ihre Unschuld verlor, ferner etliche Biographien (u.a. von Heisenberg, Planck, Wirtz und insbesondere Einstein) sowie unternehmenshistorische Studien insbesondere zur führenden optischen Firma Zeiss.

Wissenschaftsgeschichte war in dieser Zeit noch in der Phase der „Große-Männer-Historiographie“, aber Hermann betrachtete seine Figuren eingebunden in sozial-kulturelle Kontexte sowie zeittypische Tendenzen; er erfasste feinfühlig deren jeweiligen Horizont und Möglichkeitsraum. Experimente (wie etwa die Selbstexperimente des „romantischen Physikers“ Johann Wilhelm Ritter) waren für ihn Zeugnisse von Wahrnehmungsweisen der Natur und auch Wirtschafts­unternehmen sowie Technik waren für ihn eingebettet in Kultur, so auch der Rahmentitel eines von ihm federführend herausgegebenen 10-bändigen Handbuchs über Technik und Kultur (1991). Darüber hinaus war er in den 1970er bis 1990er Jahren auch in der Agricola-Gesellschaft für Technik­geschichte sehr engagiert, viele Jahre lang als Vorsitzender von deren wissenschaftlichem Beirat, ebenso in der Kepler-Gesellschaft. 1972 gründete er den Fachausschuss Physikgeschichte in der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, der von ihm dann bis 1991 geleitet und nach der Vereinigung der beiden Physikalischen Gesellschaften unter der neuen Bezeichnung Fachverband Geschichte der Physik ganz bewusst in die Hände eines ostdeutschen Physikhistorikers gegeben wurde - eine in den stürmischen Zeiten der deutschen Wiedervereinigung nicht gerade weit verbreitete Geste. Ferner organisierte er wichtige DPG-Tagungen wie etwa die in Ulm 1979 zu Einstein. 

Stilistisch war er in hohem eigenem Anspruch an Meistern der Literatur orientiert, mit Thomas Mann als seinem Vorbild. Um seine Leser noch näher an die Quellen heranzuführen, war Hermann ferner auch Heraus­geber zahlreicher kommentierter Quellen­ausgaben (u.a. zu Planck, Haas, Stark, Schrödinger und Ritter), sowie eines Lexikons Geschichte der Physik. Zur Vorbereitung der Herausgabe einer dreibändigen Sammelwerks zur History of Cern war er 1982-85 von seiner Professur in Stuttgart beurlaubt. Ferner begleitete er die an seinem Lehrstuhl von Karl von Meyenn (1937-2022) begonnene mehrbändige Edition des wissenschaftlichen Brief­wechsels von Wolfgang Pauli mit einem Vorwort zum Nutzen von Brief­editionen im ersten Band jener Edition (1979).

Als vielgefragter Vortragender und als Verfasser unzähli­ger semipopulärer Zeitungs­artikel und Aufsätze erreichte er eine weit über sein Fach hinausreichende breite Öffent­lich­keit und begeisterte diese für Wis­sen­schafts- und Technikgeschichte. Dementsprechend viele Studenten und Doktoranden hatte er und führte viele davon zu einfluss­reichen Positionen in Archiven, Museen, in der Industrie und an Univer­si­täten. Mehrere seiner früheren Mitarbeiter wie etwa Lothar Suhling (1938-2018) oder Gerhard Zweck­bronner (*1947) gingen an das Mannheimer Landesmuseum für Technik und Arbeit (heute Technoseum), Ulrich Hoyer (1938–2020) wurde 1975 Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie in Münster, Andreas Kleinert (*1940) 1980 Professor für Geschichte der Naturwissen­schaf­ten an der Universität Hamburg und 1995 an der Universität Halle, Wal­ter Kaiser (*1946) 1987 Professor für Geschichte der Technik an der RWTH Aachen, und Helmuth Albrecht (*1955) 1997 Professor für Technik­geschichte u. Industriearchäologie an der TU Berg­aka­de­mie Freiberg. Der ehemalige Humboldt-Stipendiat David Cassidy (*1945) wurde 1990 Pro­fes­sor für Wissenschafts­geschichte an der Hofstra University in den USA und Dieter Hoffmann (*1948), der 1991 als Integrationsstipendiat der Humboldt-Stiftung am GNT-Lehrstuhl war und dort „den Westen lernen“ konnte, wurde 1995 Mitarbeiter am neu gegründeten Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin sowie 2004 apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Schwerpunkt Wissenschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität.

Prof. Dr. Armin Hermann verstarb in der Nacht vom 12. auf den 13. Februar 2024 in seinem Haus in Oberstarz bei Miesbach inmitten der alpennahen Berglandschaft, mit der er sich immer so verbunden gefühlt hatte und die auch der Hauptgrund dafür war, dass er mehrere verlockende Rufe an andere renommierte Univer­si­täten ablehnte. Seine Frau, die ihn viele Jahrzehnte lang aktiv begleitet hat, war bis zuletzt bei ihm. Er verstarb in Frieden und ohne große körperliche Qualen, in hohem Alter. Durch sein  beeindruckendes, umfangreiches und wirkungsmächtiges Lebenswerk wird er uns allen in Erinnerung bleiben. Viele Physik-, Wissenschafts- und Technikhistoriker/innen in Deutschland und im Ausland trauern um diesen einflussreichen Fachvertreter.                                                                                                             

Prof. Dr. Klaus Hentschel, Stuttgart

Prof. Dr. Dieter Hoffmann, Berlin