Die neun Nuklearstaaten besitzen zusammen mehr als 13.000 nukleare Sprengköpfe; Russland und die Vereinigten Staaten besitzen mehr als 90% davon. Rund 2000 Sprengköpfe auf ballistischen Raketen sind in Alarmbereitschaft und können kurzfristig abgefeuert werden. Länder mit wachsenden Sprengkopfbeständen: China, Indien, Nordkorea, Pakistan, Russland, Großbritannien. Länder mit stabilen Sprengkopfbeständen: Frankreich, Israel. Länder mit abnehmenden Sprengkopfbeständen: USA

Die nuklearen Gefahren vervielfachen sich

Ausgabe 65 | Februar 2023 | „Angesichts der aktuellen nuklearen Gefahren sollten die Physikerinnen und Physiker sich weltweit stärker zusammenschließen, um konstruktive Vorschläge zur drastischen Reduktion von nuklearen Risiken zu erarbeiten und den globalen Abrüstungsprozess weiter voranzubringen.“ - Joachim Ullrich (DPG-Präsident)

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  • Die Gefahr eines Einsatzes nuklearer Waffen und fortgesetzter nuklearer Weiterverbreitung nimmt angesichts ungelöster Konflikte weltweit zu.
  • Rüstungskontrollverträge laufen aus oder wurden gekündigt.
  • Simulationsprogramme zeigen, dass auch kleine Nuklearexplosionen überregionale Folgen haben und mit weitreichendem Fall-out, Klimafolgen und Hungersnöten einhergehen.
  • Gesellschaft, Politik und Wissenschaft müssen gegensteuern, um das Risiko eines Nuklearwaffeneinsatzes drastisch zu verringern.

Die Meldungen über einen möglichen Einsatz taktischer Nuklearwaffen Russlands im Krieg gegen die Ukraine schüren Ängste über neue nukleare Risiken in Europa. Taktische Nuklearwaffen sind auf verschiedenen Trägersystemen für den Kriegseinsatz stationiert und nicht durch Rüstungskontrollverträgen begrenzt.1 Ihre enorme Sprengkraft variiert von wenigen bis zu einigen hundert Kilotonnen.2 Darüber hinaus belegen Anschuldigungen, der Einsatz von „schmutzigen Bomben“ werde vorbereitet, dass die Kontrolle von spaltfähigem Material bis heute verbesserungswürdig ist. Solche Entwicklungen erhöhen das Risiko der Legitimation eines Nuklearwaffeneinsatzes. Das alles konterkariert die Erklärung der fünf Nuklearwaffenstaaten vom 2. Januar 2022, die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates sind, dass „ein Nuklearkrieg niemals geführt werden darf“3.

De facto wurden Rüstungskontrollverträge gekündigt (ABM-Vertrag 2003, KSE-Vertrag 2015, INF-Vertrag 2019), die Inspektionen des New-START-Vertrages zwischen den USA und Russland sind unterbrochen und die 10. Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrags ohne Abschlussdokument beendet. Zudem nimmt die Zahl der einsetzbaren Nuklearwaffen in einigen Staaten weiter zu, so u. a. in Indien, Pakistan, Großbritannien, China und besonders in Nordkorea. Vom russischen Präsident Putin wurde die Möglichkeit eines Einsatzes von taktischen Nuklearwaffen bereits mehrfach ins Spiel gebracht.

Ein „regionaler“ Nuklearkrieg würde neuesten mathematischen Simulationen zufolge zu Millionen Toten führen und zusätzlich das globale Klimasystem und die Nahrungsmittelproduktion massiv beeinträchtigen und zu einer globalen Hungersnot führen.4&5 Auch ein Nuklearkrieg zwischen den USA, der NATO und Russland mit zig Millionen von Opfern kann nicht ausgeschlossen werden.6

Noch nicht einmal zivile Kernanlagen (z. B. in Saporischja, Ukraine) sind gegen konventionelle Angriffe geschützt.7 Die Wissenschaft hat daher jüngst Vorschläge für implementierbare Schritte zur Deeskalation und Abrüstung entwickelt, beispielsweise die Errichtung von Schutzzonen um Kernanlagen, die Einführung einer No-First-UseVereinbarung, mehr Transparenz bzgl. der Zahl, der Typen und der Stationierung von nuklearbestückten Trägersystemen und ein Moratorium für die Stationierung von neuen Nuklearwaffen.8 Des Weiteren empfehlen die Expertinnen und Experten folgende Schritte:

  • Aufbau und Intensivierung einer direkten Krisenkommunikation zwischen den Nuklearwaffenstaaten, insbesondere zwischen Russland, den USA und der NATO, um die Gefahr eines Nuklearwaffeneinsatzes auszuschließen.
  • Schnelle Wiederaufnahme des amerikanisch-russischen Dialogs über strategische Stabilität und für das Fortsetzen des New-START-Prozesses nach 2026.
  • Fortsetzung der Zusammenarbeit zur globalen Nichtverbreitung von Nuklearwaffen, insbesondere durch Hinwirken auf eine Wiederbelebung des Atomabkommens mit Iran zur Verhinderung eines iranischen Nuklearwaffenprogramms, das erhebliche Proliferationswirkungen im Nahen Osten und darüber hinaus entfalten würde.

 


Fußnoten

1. Bereits die Göttinger Erklärung von 1957 stellte fest: „Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben.“ Text unter: https://www.uni-goettingen.de/de/text+des+g%c3%b6ttinger+manifes ts/54320.html

2. Die Sprengkraft der Hiroshima Bombe betrug ca.15 Kilotonnen. Das Simulationsprogramm NUKEMAP unter https://nuclearsecrecy.com/nukemap/ ermöglicht eigene Simulationen mit variabler Sprengkraft und Ortsangabe.

3. Joint Statement of the P5 Leaders https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2022/01/03/p5-statement-on-preventingnuclear-war-and-avoiding-arms-races/

4. Xia, L., A. Robock, et al. „Global food insecurity and famine from reduced crop, marine fishery and livestock production due to climate disruption from nuclear war soot injection.“ Nature Food 3(8): 586-596. https://www.nature.com/articles/s43016-022-00573-0/tables/1

5. A. Witze: Nuclear War between Two Nations Could Spark Global Famine, Nature Vol. 608:661, 25. August 2022. https://www.nature.com/articles/ d41586-022-02219-4

6. Princeton Science and Global Security Program: Plan A. How a Nuclear War Could Progress https://sgs.princeton.edu/the-lab/plan-a

7. Zu Kriegsrisiken von Kernanlagen siehe: World Nuclear Industry Status Report von Michael Sailer. https://www.worldnuclearreport.org/-WorldNuclear-Industry-Status-Report-2022-.html ab S. 244

8. The Physicists Coalition for Nuclear Threat Reduction, sponsored by APS https://www.aps.org/publications/apsnews/202005/government.cfm

9. Stellungnahme der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler vom 24. Oktober 2022: https://vdw-ev.de/stellungnahme-kuba-krise-in-zeitlupe/

 

Webpages:

• DPG-Arbeitsgruppe Physik und Abrüstung
• https://www.dpgphysik.de/vereinigungen/fachuebergreifend/ag/aga
• The Physicists Coalition for Nuclear Threat Reduction, sponsored by APS
• https://www.aps.org/publications/apsnews/202005/government.cfm
• Deep Cuts Commission http://www.deepCuts.org
• Federation of American Scientists https://fas.org/
• Union of Concerned Scientists https://www.ucsusa.org/
• Bulletin of the Atomic Scientists https://thebulletin.org/
• International Partnership for Disarmament Verification https://www.ipndv.org
• Initiative Atomkrieg aus Versehen: https://atomkrieg-aus-versehen.de/artikel/
• Forschungsverbund Naturwissenschaft und Abrüstung
• http://www.fonas.org

 

Die Deutsche Physikalische Gesellschaft dankt dem Sprecher des DPG-Arbeitskreises Physik und Abrüstung Götz Neuneck für Input und Beratung.