Illustration des Higgs-Potentials. Die symmetrische Lösung ist instabil. Das Higgs-Potential bricht spontan die Symmetrie der elektroschwachen Kraft. Das HiggsBoson entspricht dabei den radialen Oszillationen um dieses gebrochene Minimum. John Ellis, Higgs Physics, arXiv:1312.5672. https://arxiv.org/abs/1312.5672

Zehn Jahre Entdeckung des Higgs-Bosons: Beginn einer neuen Ära?

Ausgabe 62 | Juni 2022 | „Unser Universum scheint von einem Higgs-Feld erfüllt zu sein. Solche skalaren Felder könnten sich als Schlüssel zu offenen Rätseln der Physik erweisen.“ Joachim Ullrich, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft

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  • Das Higgs-Boson wurde 1964 vorhergesagt und nach fast 50 Jahren Suche 2012 am Large Hadron Collider LHC des CERN entdeckt.
  • Nur ein Jahr später wurden die Theoretiker Peter Higgs und François Englert für die Vorhersage mit dem Nobelpreis gewürdigt.
  • Die Erforschung des Higgs-Mechanismus eröffnet neue Perspektiven in der Teilchenphysik und Kosmologie.

Die Entdeckung des Higgs-Bosons im Jahre 2012 in den Experimenten ATLAS und CMS am Large Hadron Collider (LHC) des CERN war ein Triumph der Wissenschaft, die uns von der theoretischen Vorhersage zum experimentellen Nachweis führte. Sie beruhte auf der internationalen Zusammenarbeit tausender Physikerinnen und Physiker. Der Higgs-Mechanismus war fast 50 Jahre zuvor vorhergesagt worden; er war die letzte fehlende Komponente des Standardmodells der Teilchenphysik. Für die Vorhersage des Higgs-Bosons erhielten Peter Higgs und François Englert 2013 den Nobelpreis für Physik. Aber das Higgs-Boson und das Standardmodell geben noch viele Rätsel auf.

Seit 500 Jahren konzentriert sich die Physik auf Kräfte, also auf Vektoren. Das Higgs-Feld ist dagegen das erste fundamentale skalare Feld1 im Universum. Es entspringt einer Symmetriebrechung und erzeugt die Massen aller anderen fundamentalen Teilchen, indem es an diese Teilchen proportional zu ihren Massen koppelt. Effekte, die von Theorien jenseits des Standardmodells vorhergesagt werden, würden sich u. a. durch Abweichungen vom Higgs-Mechanismus bemerkbar machen. Nach denen sucht die nächste Ausbaustufe des LHC, der derzeit wieder in Betrieb geht. Für eine präzise Charakterisierung des Higgs-Bosons wäre jedoch ein leistungsstarker Elektron-PositronCollider2 nötig. Aus den Selbstkopplungen von Paaren von Higgs-Bosonen könnte dann die Form des Higgs-Potentials bestimmt werden.

Ein solcher Collider könnte unter anderem folgende Fragen beantworten: Warum ist die Symmetrie des Higgs-Potentials gebrochen? Ist das Higgs-Boson elementar? Mit einer Masse von 125 GeV ist es zwar etwa 130-mal schwerer als ein Proton. Warum aber ist es kaum schwerer als die schweren Eichbosonen W± respektive Z0 der elektroschwachen Wechselwirkung? Gibt es weitere Higgs-Bosonen, die von vielen Theorien jenseits des Standardmodells vorhergesagt werden? Was trägt das Higgs-Feld zur Vakuumenergie des Universums bei und wie stabil ist dieses Feld? Schafft das Higgs-Boson eine Verbindung zur dunklen Materie?

Die Erforschung des Higgs-Mechanismus ist darüber hinaus wichtig, weil Skalarfelder nicht nur in der Teilchenphysik eine fundamentale Rolle spielen, sondern ebenso in der Kosmologie: Sowohl das hypothetische Feld der kosmischen Inflation des Urknalls als auch das Feld der mysteriösen dunklen Energie sind skalare Felder. Sie entscheiden über das Schicksal unseres Universums. Die Frage nach der Rolle fundamentaler skalarer Felder im Universum erinnert zudem an die Entwicklung der Idee des elektromagnetischen Feldes im 19. Jahrhundert. Dieses fundamentale Vektorfeld bestimmt heute unser Leben.

Wie einst der Elektromagnetismus kann die Erforschung der skalaren Felder und des Higgs-Mechanismus eine neue Perspektive in der Teilchenphysik und Kosmologie eröffnen. Oder um Peter Higgs zu zitieren: „We’ve scratched the surface. But we have clearly much more to discover.”

 


 

Fußnoten

1. Wir kennen skalare Felder wie Luftdruck und Temperatur aus der Meteorologie. All diese Felder sind jedoch nicht fundamental, sondern emergent, also aus den mikroskopischen Eigenschaften der Materie abgeleitet. Die skalaren Potentiale von Elektromagnetismus und Gravitation unterliegen einer Eichfreiheit und werden erst nach Ableitung im Raum zu definierten vektoriellen Kräften.

2. Positronen sind die Antiteilchen der Elektronen

 

Die DPG dankt dem Autor Thomas Naumann vom Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY in Zeuthen sowie dem Komitee Elementarteilchenphysik und der LHC Kommunikation Deutschland.