(Nahezu) völlig losgelöst – Experimente unter Mikrogravitation
Ausgabe 33 | August 2018 | „Das „Abschalten“ störender Einflüsse eröffnet der Wissenschaft immer wieder neue Einsichten. Um der Gravitation zu entgehen, müssen wir uns ganz im Sinne von Albert Einsteins Relativitätstheorie einfach „fallenlassen“ – im Fallturm, beim Parabelflug oder auf einer Satellitenbahn.“ - Dieter Meschede, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft
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- Das „Abschalten“ der Schwerkraft bei Experimenten bringt neue Erkenntnisse für viele Forschungsdisziplinen.
- Je nach Fragestellung nutzen Experimentatoren verschiedene Forschungseinrichtungen.
Echte Schwerelosigkeit gibt es nur im Idealfall. In der Regel beeinflussen nämlich die Massen anderer Objekte die Experimente. Daher sprechen Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler genauer von Versuchen unter Mikrogravitation.
Aufsehenerregend sind sogenannte Parabelflüge. Dabei beschreiben Flugzeuge eine zur Erdoberfläche geöffnete Parabel. So lassen sich einige Sekunden Schwerelosigkeit erreichen. Kontrollierter verlaufen Experimente in sogenannten Falltürmen – zum Beispiel im neuen Einstein-Fahrstuhl des Hannover Institute of Technology (HITec) oder im Bremer Fallturm des Zentrums für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation ZARM. Der hat eine Höhe von 146 Metern und ist mit dem dort installierten Katapultsystem weltweit einzigartig. Forschungsgruppen aus aller Welt können hier Experimente von knapp zehn Sekunden Dauer bei einem Millionstel der Erdanziehungskraft durchführen. Langzeitexperimente unter Mikrogravitationsbedingungen lassen sich im All durchführen – auf Satelliten oder auf der Internationalen Raumstation ISS.
Das Themenspektrum reicht von der astrophysikalischen und physikalischen Grundlagenforschung wie der Atominterferometrie mit ultrakalten Atomen über die Biologie, Medizin und die Materialwissenschaften bis hin zu Technologietests beispielsweise von Verbrennungsvorgängen oder der Strömungsmechanik.
Auf der ISS im All geht man u. a. der Frage nach der Entstehung von Planeten nach. So untersucht das Experiment EXCISS (Experimental Chondrule Formation at the ISS) eines Teams der Universität Frankfurt am Main die Entstehung von so genannten Chondren. Das sind kleine mineralische Klumpen, die Keime sind für spezielle Meteoriten. Das Experiment ARISE der Universität Duisburg-Essen untersucht, welche Rolle elektrische Aufladungen bei der Geburt von Himmelskörpern spielen. Beide Experimente entsprangen einem Studierenden-Wettbewerb der Deutschen Physikalischen Gesellschaft und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt namens „Überflieger“, ebenso wie das Experiment PAPELL (Pump Application using Pulsed Electromagnets for Liquid reLocation) der Universität Stuttgart. Es untersucht eine neuartige Pumpentechnologie, die ohne mechanische Bauteile auskommt und daher weniger fehleranfällig ist. Ob diese Techniken sich auch auf der Erde durchsetzen können, wird die Zeit zeigen müssen, so wie bei jeder Forschung und insbesondere der Grundlagenforschung. Auf jeden Fall erlauben die Experimente in Schwerelosigkeit einen unter gewöhnlichen Bedingungen nicht möglichen Blick.
Die Deutsche Physikalische Gesellschaft dankt Claus Lämmerzahl vom Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM) für die wissenschaftliche Beratung.