Zerfall eines Higgs-Kandidaten in vier Myonen (rote Spuren) im ATLAS-Detektor am LHC. Alle anderen Spuren zeigen weitere Teilchen, die bei der primären Proton-Proton-Kollision im LHC entstehen. (Bild: CERN)

Das Higgs-Teilchen und der Ursprung der Masse

Ausgabe 12 | Juli 2012 | „Der experimentelle Nachweis des Higgs-Teilchens zeigt, dass die schwierigsten Probleme nur dann gelöst werden können, wenn es eine weltweite Zusammenarbeit ohne politische Zwänge und Vorgaben gibt.“ - Johanna Stachel, Präsidentin der Deutschen Physikalischen Gesellschaft

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Warum ist das Higgs-Teilchen so wichtig? In den letzten Jahrzehnten hat die Physik ein überaus erfolgreiches Modell für die Bausteine der Welt und die Kräfte zwischen ihnen geschaffen. Dieses Modell hat aber eine Schwachstelle: Kräfte dürfen hier nur von masselosen Austauschteilchen wie dem Photon übertragen werden. Allerdings zeigte sich, dass sich die Austauschteilchen der schwachen Kraft, die W- und Z-Bosonen, nicht daran halten: Sie besitzen eine bisher unerklärt große Masse. Um keinen Widerspruch mit dem Modell zu erhalten, muss es also etwas geben, das diesen Teilchen Masse verleiht. Dazu führten Peter Higgs und andere Physiker [I] 1964 das Higgs-Feld ein, welches im gesamten Universum gleichermaßen vorhanden ist. Die ursprünglich masselosen Austauschteilchen interagieren mit dem Higgs-Feld und erlangen so ihre Masse. Das Higgs-Feld ist nicht direkt messbar, aber durch seine Existenz muss es mindestens ein weiteres Elementarteilchen geben, das Higgs-Teilchen [II]. Dieses Teilchen ist elektrisch neutral und zerfällt sehr schnell. Aus früheren Experimenten wissen wir bereits, dass seine Masse mehr als 120mal der Protonmasse sein müsste. Higgs-Teilchen sind der letzte fehlende Baustein des Modells: Ihre Entdeckung ist zwingend nötig, wenn das Modell die Natur beschreiben soll. Andererseits, zieht man diesen Baustein heraus, bricht das gesamte Gebäude zusammen.

Wie weist man das Higgs-Teilchen nach? Um Higgs-Teilchen zu erzeugen, werden im Large Hadron Collider (LHC) am CERN Protonen mit vorher nie erreichten Energien von 4.000 GeV [1] zur Kollision gebracht. In einer Minute finden Milliarden von Reaktionen statt, bei denen meist nur ein einziges Mal ein Higgs-Teilchen produziert wird. Dieses zerfällt in kürzester Zeit und kann daher nur über seine Zerfallsprodukte identifiziert werden, wie z. B. den Zerfall in zwei Z-Bosonen. Die wiederum können in je zwei Myonen zerfallen, die schweren Partner des Elektrons. Ein solches Zerfallsereignis ist in der Abbildung dargestellt.

Wie ist der Stand der Higgs-Suche? Der LHC lief in den Jahren 2011 und 2012 extrem erfolgreich. So konnten die Experimente ATLAS und CMS – unabhängig voneinander und trotz unterschiedlicher Messmethoden – bei einer aus den Zerfallsprodukten berechneten Masse von etwa 134mal der Protonmasse (entspricht m·c² = 126 GeV) signifikant [2] mehr Ereignisse beobachten, als man durch reinen Untergrund [3] erwarten würde. Dies impliziert die Beobachtung eines neuen Teilchens, konsistent mit dem Higgs-Teilchen. Diese Beobachtung muss nun noch durch weitere Analysen bestätigt werden.

Wie ist das Ergebnis zu bewerten? Und was bedeutet dies für die Menschheit? Jetzt müssen die Teilchenphysikerbeweisen, dass das entdeckte Objekt tatsächlich das mit dem Phänomen Masse im Universum verknüpfte Higgs-Teilchen ist. Dazu untersucht man, ob die Wahrscheinlichkeit, dass das Higgs-Teilchen in bestimmte Teilchen zerfällt, von deren Masse abhängt: Je schwerer, desto häufiger. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die bis Jahresende von beiden Experimenten aufgenommenen Daten (etwa doppelt so viel wie jetzt) ausreichen werden, diesen Beweis zu liefern. Durch eine experimentelle Bestätigung des Higgs-Mechanismus bekommen auch die Elektronen und Quarks (elementare Bausteine z.B. der Protonen und Neutronen) eine – wenn auch kleine – Masse. Basierend auf dieser kleinen Masse werden dann durch die starke Wechselwirkung die restlichen 99 % der Protonmasse erzeugt.

 Das CERN wurde 1954 als Pilotprojekt friedlicher, europäischer Zusammenarbeit gegründet (siehe UNESCO Generalkonferenz Florenz 1950), um wissenschaftliche Projekte, die für ein einzelnes Land zu groß sind, gemeinsam anzugehen. Diese Form der Zusammenarbeit kann auch ein Vorbild für die Lösung der großen Fragen der Zukunft sein, vor denen die Menschheit steht.


 

Fußnoten

1. GeV = Giga-Elektronvolt

2. Da auch statistische Fluktuationen ein Signal vortäuschen können, gilt für die Entdeckung eines neuen Teilchens: Erst wenn mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:1,7 Millionen ausgeschlossen werden kann, dass es sich um eine Fluktuation des Untergrunds handelt, gilt eine Messung als Entdeckung. Das ist etwa so wahrscheinlich, wie acht Mal hintereinander eine Sechs zu würfeln.

3. Als Untergrund bezeichnet man Ereignisse mit ähnlicher Zerfallssignatur, die aber auf andere Prozesse zurückzuführen sind.

⇒ Zusatzinformationen

 

Die Deutsche Physikalische Gesellschaft dankt ihren Autoren Karl Jakobs, Thomas Naumann und Achim Stahl.