Michael Feindt

"Um die großen Zukunftsfragen der Menschheit zu klären, ist mehr rationaler Sachverstand nötig. Physiker mit ihrem analytischen Verstand können dort eine Menge bewegen."

Prof. Dr. Michael Feindt (DPG-Mitglied seit 1985) studierte von 1978 bis 1984 Physik an der Universität Hamburg und promovierte am Deutschen Elektronen Synchrotron DESY in Hamburg im Jahr 1988. Von 1991 bis 1997 arbeitete er am Europäischen Laboratorium für Teilchenphysik CERN in Genf. Seit 1997 ist er Professor für Physik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).

Im Jahr 2000 entwickelte er den NeuroBayes-Algorithmus, der mittlerweile in vielen Branchen zur rein datengetriebenen Prognose von Wahrscheinlichkeiten zukünftiger Ereignisse und damit als Basis für die Automatisierung von operativen Entscheidungen in den Bereichen Einkauf, Vertrieb, Forschung & Entwicklung, Fertigung und Finanzen dient. NeuroBayes war die Basis des von ihm gegründeten Unternehmens BlueYonder, Deutschlands führendem Softwareanbieter im Bereich Prognose und Entscheidungsautomatisierung. Blue Yonder hilft Unternehmen zu erkennen, welchen immensen Nutzen ihnen die Daten bringen, die Tag für Tag automatisch bei ihnen landen. Dafür wurde das Unternehmen mit zahlreichen Innovationspreisen ausgezeichnet. Heute ist Blue Yonder weltweit tätig und hat mehr als 5500 Mitarbeiter und 3500 Unternehmen als Kunden. 

 

 

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Wenn ich nicht Physiker/in geworden wäre...

...wäre ich IT-Unternehmer geworden. Heute bin ich beides.

 

Welches ist der schönste Konferenz-Ort, den Sie kennen?

Eine B-Physik-Konferenz auf Hawaii im Jahr 1997 war für meinen Werdegang entscheidend. Dort habe ich entschieden, nicht die mir angebotene permanente Stelle am CERN anzunehmen (eigentlich der Traum fast jedes Physikers), sondern eine Professur in Karlsruhe. Kurzfristig finanziell die weitaus schlechtere Alternative, gab sie mir zunächst die Möglichkeit, mich auch an den Experimenten CDF II (USA) und später Belle (Japan) zu engagieren, und die Freiheit, 2002 eine Firma zu gründen, aus der das heutige Blue Yonder hervorgegangen ist. Mit über 5500 Mitarbeitern weltweit ist Blue Yonder heute führend in der Entwicklung von Software für die Wertschöpfungskette von Fabrikation bis Handel basierend auf Machine Learning/Künstlicher Intelligenz.

 

Was bewegt Sie neben Physik und Arbeit?

Mit Familie am Meer, Lesen, Künstliche Intelligenz, Maschinelles Lernen, Statistik, Musik, elektrifizierte Sportwagen  

 

Welchen Bezug haben Sie zur DPG?

Mitglied, seitdem ich Diplomand war. Mein erster öffentlicher Vortrag war bei einer DPG-Tagung...

 

Welches war die letzte DPG-Veranstaltung, an der Sie teilgenommen haben?

Forschung-Entwicklung-Innovation 2020 des Arbeitskreises Industrie und Wirtschaft. Leider wegen Corona ausgefallen, verschoben auf 2021.

 

Welche Aufgabe sehen Sie für die Physik in der Gesellschaft von morgen?

Physik spielt für mich eine vorbildliche Rolle für wissenschaftliches, analytisches, quantitatives, rationales Denken und Problemlösen. Für mich heißt das, sowohl die Welt zu verstehen, als auch, mit allgemeingültigen Erkenntnissen Technologien zu entwickeln und in Physik-fernen Bereichen Probleme lösen zu helfen. Gerade die Erfahrung mit Covid hat gezeigt, wie wichtig es ist, über allgemein anerkanntes, belegtes Wissen zu verfügen, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Künstliche Intelligenz, datenbasiert, verantwortungsvoll angewendet, ist für mich heute das Credo - interfakultativ, aber Physiker haben, wie bei vielen wichtigen Entwicklungen, große Beiträge geleistet.

 

Welche Aufgaben hat eine europäisch gedachte Physik?

Wir leben auf einer einzigen globalen Erde. Gerade die Wissenschaft ist sehr international, und das bestimmt mein Fühlen, Arbeiten und Denken.

Ich beobachte mit Sorge, wie wenig junge Menschen sich in Europa (und auch in den USA, also eher im wohlhabenden Westen) ein schweres Physik-, Mathematik- oder Informatikstudium absolvieren. Der Ehrgeiz in China oder Indien ist da sehr viel höher. Es fehlt sicher nicht an Talent und an Bildungsmöglichkeiten, aber an der Motivation, der öffentlichen Beachtung und Begeisterung. Da ist meiner Meinung nach die europäische Gesellschaft gefordert.   

 

Warum sollten sich PhysikerInnen verstärkt in den politischen Diskurs bzw. Alltag einbringen?

Trotz eines langfristigen Trends zu mehr Rationalität in der Geschichte der Menschheit gibt es kurzfristig immer wieder Individuen und Gruppen, die offenbar obskure Dinge glauben und die wissenschaftliche Methode nicht ernst nehmen oder akzeptieren und merkwürdige Entscheidungen treffen. Ich bin überzeugt, dass auf Wissen und Können basierende rationale Entscheidungen besser sind als auf reinem Gefühl basierende, solange die ethischen Grundlagen stimmen. Um die großen Zukunftsfragen der Menschheit zu klären, ist mehr rationaler Sachverstand nötig. Physiker mit ihrem analytischen Verstand können dort eine Menge bewegen.

 

Mit welchem Thema beschäftigte sich Ihre Abschlussarbeit?

Mesonenerzeugung in Photon-Photon-Kollisionen am PLUTO-Experiment im Elektron-Positron-Speicherring PETRA (DESY). Die Erzeugung von einzelnen massiven Teilchen durch die Streuung zweier (virtueller) Photonen – den elektromagnetischen Feldern von Elektronen und Positronen – ist „Nichtlinare Optik“ par excellence. Daraus konnten partielle Resonanzbreiten bestimmt und mit verschiedenen Quarkmodellen verglichen werden.

 

Welche Fragestellungen der Physik begeistert Sie heute am meisten? 

Noch immer finde ich B-Quark-Physik, Suche nach exotischen Hadronen, Teilchen-Antiteilchen-Oszillationen und CP-Verletzung interessant. Aber auch Quanten-Computing fasziniert mich. Kausalität und Diskriminierungsfreiheit im Machine-Learning sind zwei meiner aktuellen Arbeitsthemen.

 

Woran arbeiten Sie heute?

1993 habe ich für Analysen am CERN mein erstes neuronales Netzwerk trainiert, 2000 als KIT-Professor den NeuroBayes-Algorithmus zum Lernen von bedingten Wahrscheinlichkeitsverteilungen entwickelt. 2002 habe ich meine erste Firma Phi-T Physics Information Technologies gegründet, mit Anwendungen der Technologie im Handel, bei Versicherungen, in der Finanzindustrie. 2008 hat Phi-T zusammen mit dem OTTO-Konzern die Firma Blue Yonder gegründet, die sich auf AI-basierte Software für den Handel spezialisiert hat. 2018 von der viel größeren jda Software akquiriert, hat sich diese 2020 in unseren ursprünglichen Namen Blue Yonder umfirmiert, wegen unseres exzellenten Rufes und weil unser AI/ML-Ansatz für alle Produkte der Firma zukunftsweisend ist. Wir sind sehr stolz, dass unsere automatische Handelslösung für frische Lebensmittel in einem Deloitte-Report als Musterbeispiel genannt wurde, weil sie direkt dem UN-Nachhaltigkeitsziel dient, Lebensmittelvernichtung bis zum Jahr 2030 zu halbieren. Seit einigen Jahren habe ich mich am KIT beurlauben lassen, um die Integration, das Wachstum und die Internationalisierung voranzutreiben. Mindestens die Hälfte der Zeit tüftle ich an verbesserten und neuen Algorithmen und Anwendungen. Bei Blue Yonder arbeiten viele, meist promovierte Physiker.

 

Was möchten Sie dem wissenschaftlichen Nachwuchs mitgeben?

Macht das und arbeitet an dem, was euch Spaß macht. Seid mutig. Hört nicht auf die gängige Lehrmeinung. Da ist auch immer viel Mode dabei. Moden kommen und gehen. Wenn ihr eine Idee habt, von der ihr überzeugt seid, seid sicher, da gibt es viele Bedenkenträger und Ratgeber, die versuchen, euch davon abzubringen. Hört Argumente an und wägt ab. Wenn ihr dann immer noch überzeugt seid, lasst euch nicht beeinflussen. Gab es bei uns auch alles... Jetzt sind die meisten von den Bedenkenträgern Neider.

Nicht nur die physikalische Grundlagenforschung ist intellektuell herausfordernd (davon war ich viele Jahre überzeugt), auch in der Wirtschaft, Industrie und Gesellschaft gibt es sehr viele sehr herausfordernde Probleme und mehr und mehr dringen rationales, auch pragmatisches Problemlösen, quantitatives, datengetriebenes Denken und Maschinelles Lernen in diese Bereiche vor. Mit einer guten Physikausbildung und möglichst auch Programmier- und Forschungserfahrung kann man dort viel bewegen. Seid auch am echten Leben, nicht nur am „Elfenbeinturm“ interessiert.

Werdet nicht wie die Blender, die ihre ganze Karriere auf ein paar Schlagworte begründen und viel erzählen, aber nichts schaffen. Die Welt ist voll davon. Aber seid auch nicht so naiv, dass ihr denkt, alle Entscheider und Personalchefs erkennen von sich aus die Tiefe eurer Gedanken und werden euch fördern. Auch als Physiker muss man sich „verkaufen“ können, sowohl im akademischen Bereich als auch in der Industrie. Das ist nichts Schlechtes, sondern notwendig in dieser Welt.    

 

Physik ist wie...

...eine Schule fürs Leben. Lebenslanges Lernen ist mit viel Spaß verbunden. Freude an tiefer Erkenntnis, Austausch mit klugen Köpfen, und für mich persönlich insbesondere tiefe Befriedigung beim erfolgreichen Transfer von Ideen in ganz andere Bereiche.    

Bild: © Blue Yonder inc