Das gymnasiale Lehramtsstudium in der Physik aus Sicht der Studierenden

Für alle, die in Deutschland Physik an einem Gymnasium unterrichten möchten, führt in der Regel kein Weg an einem Lehramtsstudium vorbei. Dieses besteht aus einem Studium zweier Fächer und einem erziehungswissenschaftlichen bzw. pädagogischen Anteil. Grundsätzlich in der Theorie ein guter und nachvollziehbarer Aufbau. Doch ist das Lehramtsstudium in der Realität ebenso schön, wie viele Universitäten es auf ihren Websites darstellen? Und wie sehen dies die Studierenden selbst?

Mit diesem Bericht möchte Ihnen das Arbeitsteam „Schule, Lehramt und Nachwuchs“ der jungen Deutschen Physikalischen Gesellschaft (jDPG) einen Einblick in die deutschlandweite Situation aus unserer Sicht als Studierende geben. 53 Lehramtsstudierende in der jDPG haben gemeinsam die Probleme im Studium sowie mögliche Lösungsvorschläge für diese erarbeitet. Im Folgenden möchten wir Ihnen einen kleinen Einblick in unsere Erfahrungen und Ideen aus ganz Deutschland geben.

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurde festgestellt, dass im Lehramtsstudium nicht die im späteren Unterricht benötigten Inhalte gelehrt werden. Konkret beschrieb der Mathematiker Felix Klein das Problem unter dem Begriff der doppelten Diskontinuität. Dies bedeutet, dass Lehrer von der Schule ins Studium (erste Diskontinuität) und vom Studium ins Lehramt (zweite Diskontinuität) jeweils eine „Kluft“ zu überspringen hätten. Klein schrieb im Jahr 1908: „Der junge Student sieht sich am Beginn seines Studiums vor Probleme gestellt, an denen ihn nichts mehr an das erinnert, womit er sich bisher beschäftigt hat, und natürlich vergisst er daher alle diese Dinge rasch und gründlich. Tritt er aber nach Absolvierung des Studiums ins Lehramt über, so muss er eben diese herkömmliche Elementarmathematik schulmäßig unterrichten, und da er diese Aufgabe kaum selbstständig mit der Hochschulmathematik in Zusammenhang bringen kann, so nimmt er bald die althergebrachte Unterrichtstradition auf, und das Hochschulstudium bleibt ihm nur eine mehr oder minder angenehme Erinnerung, die auf seinen Unterricht keinen Einfluss hat.“1 Doch wie sieht das Lehramtsstudium im 21. Jahrhundert aus? Wurden die Probleme nach über einem Jahrhundert behoben?

Die meisten Lehramtsstudierenden brechen erfahrungsgemäß bereits in den ersten Semestern des Studiums ab. Und dies liegt allzu oft an den deutlich zu hohen Anforderungen zu Beginn des Studiums. Denn im Gegensatz zu Ein-Fach-Physikstudierenden müssen die Lehramtsstudierenden neben den Einführungsveranstaltungen für die Physik auch die Einführungsveranstaltungen ihres zweiten Faches besuchen. Ist dies ein weiteres Fach aus dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich, so ist der Arbeitsaufwand in den ersten Semestern sehr hoch und ähnelt einem Doppelstudium. Vielleicht denken Sie jetzt: „Aber im Europäischen Hochschulraum ist doch der Arbeitsaufwand in allen Studiengängen gemäß des European Credit Transfer and Accumulation System (ECTS) mit Einführung der Leistungspunkte vergleichbar.“ Demnach entspricht ein Leistungspunkt einem Arbeitsaufwand von 30 Stunden. Ein Bachelorabschluss umfasst hierbei meist 180 Leistungspunkte. Dann haben Sie in der Theorie recht, in der Realität jedoch weit gefehlt. Gerade in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Studiengängen ist der reale Arbeitsaufwand meist höher. Gespräche mit den Studiendekanen ergaben, dass Leistungspunkte häufig so aufgeteilt werden, dass die Summe passt, der reale Arbeitsaufwand jedoch deutlich höher ist. Dies gilt sowohl für Lehramtsstudierende als auch für Nicht-Lehramtsstudierende in der Physik. Zu den fachlichen Einführungsveranstaltungen kommen zudem die Einführungsveranstaltungen im erziehungswissenschaftlichen bzw. pädagogischen Anteil hinzu. In der Summe ergibt sich hier ein so großer Arbeitsaufwand, dass oft keine Zeit für außeruniversitäre Aktivitäten mehr bleibt. Häufig ergeben sich bereits Hausaufgaben mit einem Arbeitsaufwand von guten 20 Stunden pro Woche. Hinzu kommen Veranstaltungen an der Universität, welche die Vor- sowie Nachmittage füllen und teilweise selbst bis in den Abend hineingehen. Resümieren wir jetzt, dass die Veranstaltungen noch vor- und nachbereitet werden müssen, so bleibt kein Platz mehr für ein privates Leben. Dieser Arbeitsaufwand trifft die meisten Studienanfänger völlig unerwartet, denn das stand auf keiner der Universitätswebsites.

Auch in der vorlesungsfreien Zeit bleibt die Zeit knapp, denn neben den regulären Prüfungen müssen häufig noch schulische und auch außerschulische Praktika absolviert werden. Natürlich wird von uns auch erwartet, dass wir Prüfungen ablegen, während wir gleichzeitig Praktika absolvieren. Denn Rücksicht in Bezug auf Prüfungstermine wird auf Lehramtsstudierende praktisch nie genommen. Auch inhaltlich stellen die Prüfungen eine Herausforderung dar. Gerade in der Mathematik, dem häufigsten Zweitfach von Lehramtsstudierenden der Physik, aber auch in der Physik sind Durchfallquoten von 80 % bei äußerst wichtigen fachlichen Prüfungen an der Tagesordnung. Hier fallen Lehramtsstudierende durch die Prüfungen, keineswegs weil sie als zukünftige Lehrkraft ungeeignet wären, sondern, weil der universitäre fachliche Inhalt zu anspruchsvoll, die Zeit zu knapp und die Prüfungen zu schwer sind. Natürlich trifft dies bei weitem nicht auf alle Prüfungen zu, aber bereits eine dreimalig nicht bestandene Prüfung kann den Traum vom Beruf als Lehrkraft zunichte machen. Lehramtsstudierende scheitern hier an Inhalten, die mit dem schulischen Alltag bei weitem nichts gemein haben.

Ebenfalls unerwartet werden viele Studienanfänger im Lehramt von den Studieninhalten getroffen. Denn einige Lehrende verwenden in den ersten Vorlesungen gerne die Worte: „Vergessen Sie alles, was Sie bisher in der Schule gelernt haben, jetzt sind Sie an der Universität!“ Dem einen oder anderen Lehramtsstudierenden dämmert hier bereits, dass das Lehramtsstudium inhaltlich wenig mit den realen Anforderungen an eine gymnasiale Lehrkraft zu tun hat. So sollen wir doch eigentlich ziemlich genau das vermitteln, was wir in der Schule gelernt haben. Vielleicht denken Sie jetzt: „Ja klar, aber Lehrkräfte müssen die fachlichen Inhalte viel tiefer gehend verstehen.“ Und das ist auch absolut notwendig. Aber auf die Frage, was eigentlich die Menge der reellen Zahlen sei, würde Ihnen ein gut ausgebildeter Lehramtsstudent, ohne mit der Wimper zu zucken, antworten: „Die Äquivalenzklassen rationaler Cauchy-Folgen!“ Wer mit dieser Definition nichts anfangen kann, aber trotzdem auf dem Gymnasium war, der kann sich jetzt fragen, warum genau Lehramtsstudierende dies in- und auswendig wissen müssen. Bereits die Inhalte des ersten von zehn Semestern übersteigen den in der Schule relevanten Lernstoff deutlich. Insbesondere in der theoretischen Physik fragen sich viele Lehramtsstudierende, warum sie sich durch diese fachtheoretischen Inhalte in voller Gänze arbeiten müssen. Wer noch nie etwas von theoretischer Physik gehört hat, der schlage am besten in einem Lehrbuch der theoretischen Physik Begriffe wie „Hamilton-Mechanik“, „Dirac-Formalismus“, „eigentliche, orthochrone Lorentz-Transformation“ oder „Vierervektor“ nach und überlege sich, wo genau im gymnasialen Physikunterricht die Themen der theoretischen Physik konkret Anwendung finden. Hierbei ist zu beachten, dass oft ähnliche Phänomene in der Experimentalphysik mit deutlich zugänglicheren Formalismen beschrieben werden können, welche für das tiefergehende Verständnis ausreichen. Zusätzlich wird in vielen Vorlesungen auf fachliche Inhalte aus vorherigen Vorlesungen verwiesen, die Lehramtstudierende im Gegensatz zu fachlich studierenden Physikern nicht hören. Leider interessiert dies viele Professor:innen grundsätzlich nicht, betrifft schließlich nur die Lehramtsstudierenden, die letztendlich sowieso keine „richtigen“ Physiker seien. Die häufige Abwertung der Lehramtsstudierenden durch einige Physikprofessoren stellt hierbei leider oft auch unser Selbstwertgefühl in Frage! Schließlich sind wir als Lehramtsstudierende auch in Physikvorlesungen nicht weniger wert als die Ein-Fach-Physikstudierenden, was von den Professoren jedoch teilweise leider anders gesehen wird. Insgesamt werden im gymnasialen Lehramtsstudium zu viele fachtheoretische Inhalte gelehrt, wohingegen deutlich zu wenig Pädagogik und Didaktik vermittelt werden. Selbst die vorhandenen erziehungswissenschaftlichen Vorlesungen setzen oft einen zu allgemeinen und manchmal fragwürdigen Schwerpunkt. So wird teilweise das Lernverhalten von Kleinkindern ausführlich diskutiert. Wir hoffen jedoch, dass wir im Gymnasium keinem Kleinkind mehr Laufen beibringen müssen. Wenn doch: Viele Lehramtsstudierende wären darauf vorbereitet!

In einigen Bundesländern wie Bayern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen wird das Lehramtsstudium zudem statt mit einem Master, wie in den anderen Bundesländern, mit dem ersten Staatsexamen abgeschlossen. Nach neun Semestern Regelstudienzeit muss hier ein Staatsexamen über die Inhalte aller Semester abgelegt werden. Konkret bedeutet dies für einen gymnasialen Lehramtsstudierenden der Fächer Physik und Mathematik sieben Prüfungen in Algebra, Analysis, Mathematikdidaktik, Experimentalphysik, Theoretischer Physik, Physikdidaktik und Allgemeiner Pädagogik innerhalb einer sehr kurzen Zeit. Die Verfügbarkeit von alten Staatsexamen zur besseren Vorbereitung ist zudem oft nicht gegeben. Auch bei diesen entscheidenden Prüfungen nach mindestens fünf Jahren Studium sind extrem hohe Durchfallquoten an der Tagesordnung. Der Wechsel in und aus diesen Bundesländern ist durch die verschiedenen Abschlüsse (Master oder Staatsexamen) unnötigerweise zusätzlich erschwert.

Im Lehramtsstudium wird stumpfes Auswendiglernen von für den späteren Unterricht unnötigen Theorien gefördert. Praxisorientierung fehlt an einigen Universitäten jedoch teilweise noch gänzlich. Hierzu würde sich beispielsweise die Erlernung von praktischer Unterrichtsgestaltung und Unterrichtsplanung anbieten. Denn die Fähigkeit, flexibel auf heterogene Lerngruppen einzugehen, ist einer der zentralen Punkte, zumal die Klassen meist nicht dem Lehrbuch entsprechen. Auch die Erstellung des eigenen Unterrichts sollte stärker im Mittelpunkt stehen. Wie erstelle ich Arbeitsblätter, Lernzielkontrollen und Klausuren? Welche Rechte gelten im schulischen Bereich und worauf muss ich besonders achten? Was darf ich als Lehrkraft und was nicht? Wie organisiere ich Ausflüge und Klassenfahrten? Welche außerschulischen Lernorte gibt es? Worauf muss ich achten, wenn ich das erste Mal vor einer Klasse stehe? All diese Fragen stellen sich die Lehramtsstudierenden, bis sie die Universität verlassen und in den Schulen ins kalte Wasser geschmissen werden. Unwissend und fachlich für den Schulunterricht überqualifiziert.

Selbst wenn wir alles dies auf uns nehmen, so gibt es teilweise immer noch zeitliche Überschneidungen von Veranstaltungen an der Universität. Auch bei der häufigsten Fächerkombination von Physik und Mathematik ist die Kompatibilität beider Studienfächer keineswegs gegeben. Diese Probleme sind an den Universitäten bekannt, es wird aber nichts beziehungsweise kaum etwas unternommen um die Studienqualität der Lehramtsstudierenden nachhaltig zu verbessern. Oft werden leere Versprechungen gegeben, geändert hat sich jedoch nur wenig und größere Veränderungen sind nicht in Sicht. Außerdem dauert es durch das Studium inklusive dem notwendigen Referendariat insgesamt viel zu lange, bis wir fertig ausgebildete Lehrkräfte sind, und dies bei praktisch keiner beziehungsweise nur sehr geringer Bezahlung im Vergleich zu anderen Berufslaufbahnen. Weithin ist der Lehramtsstudiengang an praktisch jeder Universität unterschiedlich, was eine Vergleichbarkeit und insbesondere die Möglichkeit des Wechselns in andere Bundesländer massiv erschwert.

Durch die sehr geringe Anzahl der Lehramtsstudierenden an einigen Universitäten pro Jahrgang von häufig nur ein bis fünf Studierenden fühlen sich die Lehramtsstudierenden zudem häufig allein. Wir haben nur sehr wenige oder keine Kommilitonen, mit denen wir uns über unser Studium und auch unsere Probleme austauschen können und mit denen wir unser Studium gemeinsam bestreiten können. Besonders enttäuschend ist, dass Probleme im Lehramtsstudium, die bereits vor über einem Jahrhundert aufgezeigt wurden, immer noch bestehen. Es hat sich in der universitären Ausbildung der Lehrkräfte trotz zahlreicher verzweifelter Hilferufe nichts verändert. Die bundesweite Vernetzung der Lehramtsstudierenden über die Hochschulgrenzen hinaus sollte intensiviert werden.

Nach diesem entbehrungsreichen Studium treffen die Lehramtsstudierenden auf einen Schulalltag, bei dem insbesondere in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern fachfremde Lehrkräfte und Personen ohne ein absolviertes Lehramtsstudium Physik und Mathematik unterrichten. In solchen Momenten fragen sich Lehramtsstudierende natürlich, warum sie sich durch ein Studium gearbeitet haben, das keinesfalls für den Lehrkraftalltag nützlich und jetzt scheinbar noch nicht einmal erforderlich ist. Ist dies das Zeichen, welches die Politik an die Lehramtsstudierenden senden möchte? Glaubt die Politik wirklich, durch diese Maßnahmen das Lehramtsstudium attraktiver zu machen – indem ungelernte Personen fast gleichgestellt werden mit Lehramtsstudierenden? Keine Frage, es herrscht ein eklatanter Lehrkräftemangel. Aber dies kann nicht der richtige Weg sein. Das absolvierte Lehramtsstudium muss eine zwingende Voraussetzung für die Einstellung in den Schuldienst werden bzw. bleiben. Gleichwohl dieses dringend modernisiert und praxisorientierter werden muss. Nur so können die Lehramtsstudierenden weiter für ein Studium und damit einhergehend den Beruf der Lehrkraft motiviert werden.

Das Referendariat, welches in der Regel anderthalb oder zwei Jahre dauert, stellt die Lehramtsstudierenden vor eine weitere Probe. Seminarleiter:innen zwingen durch ihre Bewertungen den Studierenden den aus ihrer Sicht besten Unterrichtsstil auf. Raum für eigene Ideen oder neue Unterrichtskonzepte, welche sich in der Praxis eventuell als äußerst nützlich erweisen, von der:m Seminarleiter:in jedoch nicht anerkannt werden, bleibt durch strenge Bewertungen oft jedoch nicht. Hier wird einem der Unterricht nach dem Theorielehrbuch aufgezwungen, unabhängig davon, ob dieser in der Praxis nützlich ist.

Der größte Wunsch vieler Lehramtsstudierender ist eine deutlich stärkere Praxisorientierung des Studiums. Im Zuge dessen ist eine stärkere Verknüpfung zwischen der Universität und der Schule wünschenswert. Der Vorteil hieran läge darin, dass an der Universität gelernte Theorien sogleich in dem Schulalltag ausprobiert und geübt werden könnten. Beispielsweise würde es in der langfristigen und selbstständigen Unterrichtsplanung helfen, wenn Studierende zum Beispiel in Zweierteams Schulklassen über ein Halbjahr hinweg unterrichten. Bereits vollständig ausgebildete Lehrkräfte könnten den Studierenden hierbei gegebenenfalls beratend zur Seite stehen sowie bei Fragen und Problemen helfen. Dies könnte ein Schritt sein, um den Lehrkräftemangel zumindest zu lindern, da Studierende bereits selbstständiger unterrichten könnten.

1Felix Klein: Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus. 3 Bände. B. G. Teubner, Leipzig 1908, S. 1.